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Das Metaverse ist in aller Munde. Doch was ist es überhaupt? Was geschieht mit uns und unserer Erfahrung der Welt, wenn virtuelles mit physischem verschmilzt? Wir zeigen auf, welche Geschäftsfelder das Metaverse eröffnet – und ob der Hype wirklich Bestand hat.
Mitten in der Corona-Pandemie gibt der französische Musiker Jean-Michael Jarre sein Silvesterkonzert – vor 75 Millionen Zuschauer:innen in der eigentlich gesperrten Notre-Dame von Paris. Der Clou dabei: Der Musiker tritt als Avatar auf, die Umgebung ist virtuell, die Zuschauer:innen befinden sich eigentlich in ihren eigenen vier Wänden und geniessen die Musik und die herrliche Umgebung vom Sofa aus, verteilt über den Globus. Willkommen im Metaverse! Willkommen in der Zukunft?
Eine neue Form der digitalen Interaktion
Das Metaverse sind digitale 3D-Welten, in denen Menschen als Avatare miteinander interagieren und Erlebnisse teilen. Der Begriff stammt aus den 1990er-Jahren – und der erste Hype feiert bald seinen 20. Geburtstag: Das erste grosse Multiversum nannte sich Second Life und wurde im Jahr 2003 gegründet. Als virtuelle Plattform für VR-Games, Chats und andere Applikationen war Second Life sehr erfolgreich. Auch nach 15 Jahren registrierten sich noch etwa 350 000 neue Nutzer:innen, um sich als Avatare in der virtuellen Umgebung zu vergnügen. Die aktuelle Vision des Metaverse geht über die Idee einer virtuellen Plattform hinaus: In Zukunft, so die Idee, sind virtuelle Plattformen miteinander verknüpft. So können User mit ihren Avataren zwischen verschiedenen Plattformen – oder besser Communities – wechseln. Das Metaverse soll Co-Creation beflügeln und soziale Interaktionen von der realen in die virtuelle 3D-Welt verlagern. Die Art dieser Interaktion ist natürlich und immersiv – und soll den «Real World»-Kontakten möglichst nahekommen. So wird das Konzert in der virtuellen Notre-Dame zu einer gemeinsamen Erfahrung, die genauso echte Erinnerungen schafft wie ein physischer Konzertbesuch.
«Im Metaverse sind reale und virtuelle Welten eng verknüpft.»
Das Metaverse eröffnet neue Märkte
Das Leben als Avatar ermöglicht es Besitzer:innen, sich neu zu erfinden. Das birgt viele Chancen – aber auch Risiken. Im Metaverse erhält das Thema Privatsphäre eine neue Bedeutung: Verifizierbare digitale Identitäten werden durch das zunehmende Verschmelzen von physischer und virtueller Welt noch wichtiger. Wenn wir uns als virtuelle Körper in einem gemeinsamen Raum bewegen, gewinnt auch das Konzept von Nähe an Bedeutung. So musste Meta, vormals Facebook, auf ihrer VR-Plattform Horizon Worlds Mindestabstände zwischen Avataren festlegen. Verletzen Nutzer:innen diese oder andere Regeln, werden sie zeitweise oder permanent von der Plattform ausgeschlossen.
Sind die Regeln einer Community klar, ist das Metaverse ein kreativer Nährboden, der auch für Unternehmen sehr interessant ist. Die Gaming-Plattform Roblox zum Beispiel lässt Nutzer:innen eigene Spiele kreieren. In kurzer Zeit sind unzählige Spiele und Erlebniswelten entstanden, in denen es auch virtuelle Gegenstände und Upgrades zu kaufen gibt. Die Monetisierung des Metaverse ist vielseitig und vielversprechend: Digitale Produkte werden für bares Geld gehandelt – vor allem, wenn sie etwas Besonderes darstellen oder selten sind. Für Goldgräberstimmung sorgen gerade Non-Fungible-Tokens (NFTs), die sogar die Einzigartigkeit von digitalen Werken versprechen. Das Metaverse eröffnet neue Märkte. Kein Wunder, suchen renommierte Unternehmen Wege, daran teilzuhaben.
Renommierte First Movers
Bis im Jahr 2026 verbringen wir alle mindestens eine Stunde pro Tag im Metaverse: Das sagt das Marktforschungsunternehmen Gartner voraus. Zukunftsorientierte Unternehmen tun also gut daran, ihre Angebote entsprechend anzupassen – und das wissen sie auch. Die Firma Nike hat Patente und Schutzrechte für die virtuelle Welt beantragt, ein Start-up für virtuelle Mode gekauft und auf Roblox die virtuelle Sport- und Erlebniswelt Nikeland eröffnet. Mit J.P. Morgan hat die erste US-amerikanische Grossbank ein Engagement im Metaverse angekündigt: eine virtuelle Lounge auf der Plattform Decentraland. Seoul will noch dieses Jahr mit dem Aufbau eines virtuellen Kommunikationsökosystems beginnen, das alle Bereiche der städtischen Verwaltung abdeckt. US-Unternehmen wie Epic Games oder Meta bauen eigene Metaversen auf. Microsoft hat für dieses Jahr eine Preview der Teams-Plattform angekündigt: Nutzer:innen treffen sich mit personalisierten Avataren im Meeting.
«Die Community gestaltet das Metaverse massgeblich mit.»
Grosses Geschäft für Retail
Auch die Modebranche wittert ein echtes Geschäft im virtuellen Raum: Nutzer:innen statten ihren Avatar mit virtuellen Accessoires und Kleidung aus – und sind schon jetzt bereit, dafür Geld auszugeben. So trägt ein Roblox-Avatar eine Gucci-Tasche im Wert von 4100 US-Dollar. Auch andere Retail-Sektoren profitieren: Wer im Metaverse einkauft, kann sich im simulierten Supermarkt bewegen und dabei gleich Informationen zur Zubereitung eines Produktes abrufen. Wer das neue iPhone in virtuellen Händen hält, kann die Grösse besser einschätzen. Und der Kauf von Outdoor-Bekleidung wird zum Erlebnis auf dem Matterhorn, beraten von Reinhold Messner. Die digitale Welt hat auch ihren eigenen Real-Estate-Markt: Im Entropia Universe hat der digitale Planet Calypso einen Verkaufspreis von 6 Millionen US-Dollar erzielt. Seitdem erwirtschaftet er durch den Verkauf von In-game Assets einen beträchtlichen Umsatz. In einer Auktion auf Upland, einem Online-Spiel für den Verkauf virtueller Grundstücke, wurde die New York Stock Exchange für umgerechnet 23 000 US-Dollar verkauft. Ein virtueller Immobilienmarkt ist denkbar: Virtuelle Strassenzüge oder Gebäude lassen sich kaufen, aufwerten und für mehr Geld wieder verkaufen.
Viele Branchen profitieren
Auch für Veranstalter von Schulungen und Workshops bietet das Metaverse neue Möglichkeiten: Das Lernen in 3D wird immersiv und effizient. Für Organisationen entfallen teure Reisekosten oder Raummieten, das digitale Erlebnis ist einfacher skalierbar. So können sie ohne viel Aufwand Kurse auf der ganzen Welt anbieten und das eigene Marktgebiet erheblich erweitern.
Das virtuelle Universum ist auch für Branchen interessant, die auf Diskretion und Seriosität setzen: Banken und Versicherungen. Virtuelle Kundengespräche eröffnen neue Möglichkeiten und sind für Kund:innen oft interessanter. Banken könnten den virtuellen Immobilienhandel mit Krediten begleiten, Versicherer die neuen digitalen Güter mit neuen Produkten absichern. Auch juristisch stellt das Metaverse neue Fragen: Marken- und Schutzrechte schützen zurzeit nur reale Werte, die virtuelle Welt ist aus rechtlicher Sicht noch ein ziemlich offenes Universum.
Real und virtuell werden eins
Die Zukunft des Metaverse scheint golden. Doch wie realistisch ist sie wirklich? Die aktuell genutzten Plattformen haben zwar bereits eine hohe Reichweite, bleiben aber weit hinter herkömmlichen Social-Media- und Gaming-Plattformen zurück. Dieses Potenzial ist riesig – nun gilt es, Nutzer:innen zu gewinnen. Eine besonders interessante Entwicklung ist die Augmented Reality, die virtuelle Welten in der echten Welt einbindet. Mit dabei sind Kartendienste wie Google Maps, Apple Maps, Microsoft und auch Niantic, die bestimmte Point of Interests verankern und nutzbar machen. Was das konkret bedeutet, zeigt Pokémon Go. Die App und die Spiele sind für Spieler:innen kostenlos. Unternehmen bezahlen dafür, ihre Location zum Spielschauplatz zu machen – eine neue, sehr effektive Form der Werbung.
Das Metaverse ist im Moment noch ein Hype. Aber die Technik ist bereit und relativ erschwinglich, immer mehr Firmen und Nutzer:innen wollen teilhaben. Auch wenn der Begriff Metaverse vielleicht verschwindet, die Technologien bleiben. Das Virtuelle und das Reale werden eins. Unternehmen sollten sich mit dem Thema auseinandersetzen. Vielleicht finden sie auf einem bestehenden Metaverse ihre virtuelle Heimat oder wollen gar ein eigenes Metaverse schaffen? Die Chancen sind vielfältig, das Potenzial ist gross. Nun heisst es: ausprobieren, erkunden, lernen, profitieren. Bis bald – im Metaverse.
Dieser Beitrag wurde verfasst von Daniel Neubig, Senior Software Engineer und Head of AR, und Daniel Zeiter, Head of Technology.