«Ist etwas nicht o.k., muss man das direkt ansprechen»
24.11.2020 – Akzente
In einer immer komplexeren Welt können Führungspersonen nicht mehr alles von oben herab bestimmen, sagt Gabriela Keller, CEO des IT-Unternehmens Ergon. Sie sieht die Corona-Krise auch als Chance, die Entwicklung zu dezentralen Strukturen zu beschleunigen.
Häufig wird über Führung gesprochen, ohne dass der Begriff geklärt ist. Deshalb: Was bedeutet Führung für Sie?
Führen bedeutet, gute Rahmenbedingungen zu schaffen und eine gewisse Ordnung in eine Organisation hineinzubringen, verbunden mit einer Verantwortlichkeit. Meine Erfahrung ist, dass viele Vorhaben eine Lokomotive brauchen: Jemand, der zieht und etwas bewegen will. Das bedeutet nicht, dass diese Person alles selbst machen muss. Doch letztlich braucht es immer jemanden, der Verantwortung übernimmt und Resultate einfordert. Führung wird besonders dann wichtig, wenn etwas nicht gut läuft. Eine solche Situation muss man erst erkennen, danach heisst es Einfluss nehmen und unterstützen. Dazu gehört auch, dass man direkt anspricht, wenn etwas nicht o.k. ist.
Flache Hierarchien und dezentrale, agile Führungsmodelle gewinnen zunehmend an Bedeutung. Weshalb braucht es diese?
Die Arbeitswelt entwickelt sich schnell. Mit dem Begriff VUCA lässt sich beschreiben, was viele Organisationen erleben: Das Akronym VUCA steht für die englischen Begriffe für Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität. Der Begriff entstand nach dem Ende des Kalten Krieges, um die veränderten Verhältnisse einer multi-lateralen Welt zu beschreiben, die immer heterogener und komplexer wurde. Heute kann ein Einzelner nicht mehr alle Themen selbst adressieren und wissen, was zu tun ist. In einer sich schnell entwickelnden Welt sind Bottom-up-Ansätze gefragt: etwa, dass man parallel viele Erfahrungen sammelt und aus diesen lernt.
Was heisst das konkret?
Bei Ergon arbeiten wir in flachen Strukturen mit autonomen Teams, die eigenverantwortlich tätig sind. Bei uns gibt es beispielsweise keine verbindlichen technischen Vorgaben für die Projekte, weil nicht eine Person alleine den besten Weg antizipieren kann. Unsere Teams entscheiden selber, welche Technologien am besten passen, denn eine zentrale Stelle kann nicht für alle Situationen die beste Lösung antizipieren. Das ist nicht immer der effizienteste Weg, weil vielleicht parallel die gleiche Erfahrung gemacht wird, aber so entsteht ein grosser Wissenspool. Und letztlich setzen sich auch die besten Lösungen durch. Die Leute wollen ja effizient arbeiten. Wenn sich die Mitarbeitenden einbringen können, entstehen die besseren Lösungen und sie fühlen sich wohler.
Statt dass Entscheidungen von oben herab gefällt werden, setzen sich die besten Wege durch, weil viele ausprobiert werden.
Genau, es braucht vielfältige Erfahrungen, diverse Denkweisen, um Komplexität bewältigen zu können. Die Corona-Situation beschleunigt Veränderungen des Führungsverständnisses. Von einem Tag auf den anderen hiess es: Vertrauen statt Kontrolle. Dies wird die Entwicklung von traditionellen Firmen beschleunigen. Viele IT-Firmen sind Vorreiter in modernen Formen der Zusammenarbeit. Das liegt auch daran, dass in der Softwareentwicklung häufig agil gearbeitet wird. Beim Programmieren muss man flexibel sein und legt immer nur so viel wie nötig fest.
Was braucht es, damit diese dezentrale, agile Führung funktioniert?
Transparenz ist sehr wichtig. Die Leute müssen wissen, was im Unternehmen läuft, damit sie mitdenken und zielgerichtet handeln können. Um die Mitwirkung zu stärken, braucht es zudem gute Gefässe, über die Ideen eingebracht werden können. Wir haben allerdings durchaus auch klassische Strukturen, ich bin ja die CEO dieser Firma, die in gewissen Situationen einfach entscheiden muss. Es braucht nicht zwingend Hierarchien, aber klare Verantwortlichkeiten.
Die Ausgangslage in einem Softwareunternehmen ist ähnlich wie in einer Schule. Viele Mitarbeitende haben eine ähnliche Ausbildung und im Grunde dieselbe Funktion. Erleben Sie auch, dass es schwierig ist, in einem so homogenen Team Kritik zu äussern oder Tipps zu geben?
Das ist ein schwieriges Thema und gehört zu den Führungsthemen, an denen wir auch noch arbeiten. Wir sehen, dass es oft einfacher ist, fachliches Feedback zu geben als Schwierigkeiten auf der Verhaltensebene anzusprechen. Dafür braucht es eine Kultur der Konfliktbereitschaft und Fehlertoleranz. Man muss ansprechen können, wenn etwas nicht geht. Da arbeite ich selber dran. Es sind schon Konflikte eskaliert, genau weil ich diese vermeiden wollte. Vor zwei Jahren habe ich deshalb ein Führungscoaching in Anspruch genommen.
In der Schule gibt es heute Lehrpersonen, die für einen bestimmten Themenbereich zuständig sind und ihre erworbene Expertise im Team weitergeben. Haben Sie auch Erfahrung mit solchen Formen der Führungsverteilung?
Wir haben sogenannte «Communities of Practice». Das sind Gruppen von Experten, die Themen wie Applikationssicherheit vorantreiben. Sie stellen Templates zur Verfügung, veranstalten Workshops, machen Reviews und bringen ihre Expertise über interne Vorträge ein. Viel Wissensaustausch passiert auch informell, bei Treffen in der Cafeteria oder beim Mittagessen. Unsere Zusammenarbeit basiert auf einem engen Austausch. Bei täglichen kurzen Projektstatusmeetings sieht und spürt man, wie es den Kollegen geht und ob jemand nterstützung braucht. In Online-Meetings ist es schwierig zu spüren, ob jemand nur sagt, dass es ihm gut geht. Hier sind alle gefordert, füreinander einzustehen.
Sie haben die Rolle von langjährigen Mitarbeitenden angesprochen. Müssen unterschiedliche Generationen unterschiedlich geführt werden?
Ja, denn unterschiedliche Generationen haben unterschiedliche Bedürfnisse und tragen unterschiedlich zum Erfolg des Unternehmens bei. Wir erleben keine grossen Unterschiede zwischen der Begeisterungsfähigkeit von jüngeren und älteren Mitarbeitern, vielmehr gibt es Leistungsdifferenzen innerhalb der eigenen Altersgruppe. Was wir aber spüren: Bei den jüngeren Generationen ist das Bedürfnis grösser, sich selbst zu verwirklichen, selbst etwas Neues auszuprobieren und unternehmerisch tätig zu sein. Die Forderung nach Selbstbestimmung nimmt zu. Wer dies als Arbeitgeber nicht bieten oder zumindest fördern kann, wird keine guten Mitarbeitenden mehr finden. Hier werden in den nächsten Jahren wohl einige Verwerfungen stattfinden.